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Reinhard Rohde: Kindeswohl hätte stärker berücksichtigt werden sollen

Die im Januar vollzogene Abschiebung eines Mannes aus Georgien und seiner vier Kinder im Alter von 3 bis 10 Jahre hat bei der Fraktion „ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Die PARTEI und DIE LINKE. Das Klimabündnis im Kreistag.“ einige Fragen aufgeworfen, um deren Beantwortung jetzt die Kreisverwaltung gebeten wird.

Für die Fraktion will Reinhard Rohde (DIE LINKE) wissen, wieso der Abholungstermin nachts erfolgen musste und wieso entgegen der Intention des Rückführungserlasses die eingeleitete Abschiebung nicht abgebrochen wurde, nachdem klar war, dass die minderjährigen Kinder von einem Elternteil getrennt würden?

Weiter wird gefragt, wieso die Ausländerstelle davon ausgegangen ist, die Ehefrau und Mutter trotz ärztlich attestierter Risikoschwangerschaft abschieben zu können? Nicht nachvollziehen kann die Fraktion die Trennung der Familie vor dem Hintergrund, dass der Vater - laut Auskunft der Rechtsbeistände - in Anbetracht seiner psychischen Verfassung kaum im Stande sei, die vier Kinder allein zu versorgen.

Rohde problematisiert zudem den Zeitpunkt der Abschiebung: "Die schwangere Ehefrau kommt jetzt im Februar in den Mutterschutz und hätte danach nicht mehr abgeschoben werden dürfen. Und uns irritiert auch, dass die Familie mit dem von der Bundesregierung geplanten „Chancen-Aufenthaltsrecht“ eine weitere Option für einen Verbleib in Deutschland gehabt hätte." Die Abschiebung von Kindern sei zudem immer verbunden mit dem Risiko von Traumatisierungen. Inwieweit das vereinbar sei mit der Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatlichen Maßnahmen, sei eine Frage, die sich - so Rohde - in diesem Fall wieder in besonderer Schärfe stelle.

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Hier die Anfrage:

Anfrage zu der im Januar erfolgten Abschiebung eines Vaters aus dem Landkreis Celle mit vier Kindern nach Georgien

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Landkreis Celle hat – wie der Niedersächsische Flüchtlingsrat mitteilte – „einen psychisch schwer erkrankten Mann zusammen mit seinen vier minderjährigen Kindern abgeschoben – und dadurch von der schwangeren Mutter getrennt. [...] In der Nacht des 20. Januar 2022 gegen 01:30 Uhr drang die Polizei in Begleitung eines Mitarbeiters des Landkreises Celle in die Wohnung der schlafenden Familie ein, um sie nach Georgien abzuschieben – obwohl dem Landkreis bekannt war, dass die im siebten Monat schwangere Frau M. aufgrund einer – attestierten – Risikoschwangerschaft nicht abgeschoben werden darf.

Im gültigen Rückführungserlass heißt es unter 5.2.:

„Abschiebungen sind grundsätzlich so zu terminieren, dass der Abholungstermin nicht vor 6.00 Uhr morgens festgelegt werden kann.

und unter 5.3.:

Wenn minderjährige Kinder von einem Elternteil oder den Eltern getrennt würden, ist aufgrund der hohen Bedeutung der Wahrung der Familieneinheit die eingeleitete Maßnahme grundsätzlich auszusetzen und die eingeleitete Abschiebung abzubrechen.

Hieraus ergeben sich folgende Fragen:

1. Wieso wurde der Abholungstermin vor 6:00 Uhr gelegt?
2. Warum wurde die eingeleitete Abschiebung nicht abgebrochen, nachdem klar war, dass die minderjährigen Kinder von einem Elternteil getrennt würden?

Die Frau und Mutter war zum Zeitpunkt der eingeleiteten Abschiebung im siebten Monat schwanger, zwei Wochen später wäre sie im Mutterschutz gewesen.

3. Warum wurde offenbar davon ausgegangen, dass die Ehefrau und Mutter trotz ärztlich attestierter Risikoschwangerschaft abgeschoben werden könne?
4. Ist es richtig, dass eine Abschiebung im Mutterschutz rechtlich nicht möglich gewesen wäre?

Die Rechtsbeistände der Familie haben darauf verwiesen, dass der Vater in Anbetracht seiner desolaten psychischen Verfassung nicht im Stande sei, die vier Kinder allein zu versorgen.

5. Hat der Landkreis diese Situation bei seiner Entscheidung bedacht? Wenn ja, wie begründet er, die Abschiebung trotzdem vollzogen zu haben?

Die Bundesregierung hat über ihren Koalitionsvertrag bekundet ein sogenanntes „Chancen-Aufenthaltsrecht“ schaffen zu wollen , das Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe ermöglichen soll.

6. Hätten die jetzt Abgeschobenen zum Personenkreis gehört, der dieses „Chancen-Aufenthaltsrecht“ in Anspruch nehmen kann?

In einem Report des Arbeitskreises Flucht und Asyl der IPPNW Deutschland mit dem Titel "Die gesundheitlichen Folgen von Abschiebungen. Eine Einordnung und Kritik aus ärztlicher und psychotherapeutischer Sicht" aus dem Jahr 2020 ist zu Situation von Kindern zu lesen: Selbst bisher gesunde Menschen können durch drohende und tatsächliche Abschiebungen und durch ein Leben in teils jahrelanger existenzieller Unsicherheit gesundheitlich schwer geschädigt werden. Für Kinder und Jugendliche gilt dies in besonderem Maß. Das Muster der Reaktionen auf diese Situation ist altersabhängig und individuell sehr variabel. Sehr kleine Kinder reagieren oft mit Verhaltensauffälligkeiten wie Ess- und Trinkverweigerung, Schlafstörungen und autoaggressivem Verhalten. [...] Ältere Kleinkinder weisen häufig Symptome wie hartnäckige Verstopfung und nächtliche Angstzustände auf. [...] Abschiebungen nicht anzukündigen, führt offensichtlich besonders oft zu einer massiven Schädigung der betroffenen Kinder, die durch das nächtliche Eindringen der Polizei in ihre Unterkunft ausgelöst wird. [...] Die meisten älteren Schulkinder und Jugendlichen reagieren aber auf traumatisierende Situationen wie eine Abschiebung ähnlich wie junge Erwachsene. Zu den Symptomen der Traumafolgestörungen zählen Schmerzzustände, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Albträume, Hyperarousals (Übererregung), Flashbacks und dissoziative Zustände.
Im IPPNW-Report wird deshalb folgende Auffassung vertreten: Die Praxis der Abschiebung von Kindern und Jugendlichen verstößt oft gegen Artikel 2 (2) und Artikel 6 (1) ; Grundgesetz (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Schutz der Familie) und Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung). Sie verstößt immer gegen Artikel 3 der Kinderrechtskonvention
der Vereinten Nationen, die bei uns geltendes Recht ist (Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatlichen Maßnahmen).

7. Bezieht die Kreisverwaltung derartige Erkenntnisse in ihre Entscheidungen ein? Wenn nein, warum nicht?