PM#20121226

Schluss mit der Gutscheinpraxis

Behiye Uca: "Der Weg ist endlich frei"

Seit Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) im Jahr 1993 erhalten Flüchtlinge den größten Teil ihrer Leistungen in Gutscheinform. Damit ist es unmöglich, z.B. Medikamente in Apotheken, Busfahrscheine in Bussen, Briefmarken oder ein Eis in der Eisdiele zu erwerben. Jetzt hat ein Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim diese Praxis in Frage gestellt und auch das Niedersächsische Innenministerium hat sich von seinem Standpunkt zurückgezogen, dass diese Praxis unabdingbar sei, und den Kommunen freigestellt, wie sie verfahren wollen. Vor diesem Hintergrund hat die Fraktion Die Linke/BSG im Stadtrat den Antrag gestellt, die Leistungen nach dem AsylbLG zum nächst möglichen Zeitpunkt in bar auszuzahlen oder auf das Konto der Berechtigten zu überweisen.

Die migrationspolitische Sprecherin der Fraktion, Behiye Uca, meint: "Jetzt ist der Weg frei für die Absachaffung des Gutscheinsystems in Niedersachsen und die Stadt Celle sollte schnellstmöglich dem Beispiel der Stadt Göttingen folgen und die unwürdige Praxis beenden." Ihre Fraktion, aber auch die Fration von Bündnis '90/Die Grünen hätten diese Praxis in der Vergangenheit immer wieder erfolglos kritisiert. Doch jetzt könnten sich weder die Verwaltung noch die anderen Ratfraktionen weiter auf formale Gründe zurückziehen: "Es geht um das Grundrecht auf Wahrung der Menschenwürde, die aus unserer Sicht in Niedersachsen viel zu lange verletzt wurde, wie auch das Bundesverfassungsgericht es hinsichtlich des soziokulturellen Existenzminimums für Flüchtlinge eindeutig festgeschrieben hat."

 

Ihre Fraktion hat in einem weiteren Antrag die Verwaltung aufgefordert, dass die Stadt Celle sofort ihre Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG nicht mehr vornehmen und ihr verfassungswidriges Vorgehen beenden soll. Dabei geht es darum, dass die Kommunen bei fehlender Mitwirkung der Flüchtlinge bei der Passbeschaffung deren Leistungen gekürzt hat. Dies hat das Sozialgericht Lüneburg in einer Entscheidung gegen die Stadt Celle im Dezember als verfassungswidrig zurückgewiesen. Behiye Uca: "Dieser Beschluss hat aus unserer Sicht grundsätzliche Bedeutung und kann nicht als Einzelfallentscheidung interpretiert werden. Deshalb sollte die Stadt schnellstmöglich alle Kürzungen auf dieser Grundlage beenden."

Die Fraktion Die Linke/BSG vertritt die Auffassung, dass die institutionellen Diskriminierungen von Flüchtlingen, wozu z.B. auch die so genannte Residenzpflicht gehört, wonach Flüchtlinge den Landkreis ihres Wohnortes nicht grundlos und ohne Antrag verlassen dürfen, beendet werden müssen. Behiye Uca: "Wer die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zu Alltagsrassismus in dieser Gesellschaft ernst nimmt, muss wissen, dass eine diskriminierenden Praxis gegen Asylsuchende Rechtsextremisten und Rassisten in ihren Haltungen bestärkt."

Hier der Antrag 1:

Die Stadt Celle zahlt zum nächst möglichen Zeitpunkt Leistungen nach dem AsylbLG ausschließlich in bar aus bzw. überweist die Leistungen auf das Konto der Empfängerinnen und Empfänger. Die Stadt Celle verzichtet auf die diskriminierende und kostenträchtige Ausgabe von Gutscheinen.

Begründung:

Die Möglichkeit der Änderung der Verwaltungspraxis ergibt sich zum einen aus dem Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 12. Dezember 2012, wonach die Nachzahlungsbeträge, die auf die Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zur Sicherung des physischen Existenzminimums entfallen, in Form von Bargeld zu gewähren sind. Zum anderen ließ das Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport in einer Pressemitteilung vom 13.12.2012 verlauten, dass es im alleinigen Ermessen der Kommune stehe, inwieweit nunmehr auch die Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ausschließlich in Bargeld ausgezahlt werden können.

Damit ist auch formal der Weg frei für eine diskriminierungsfreie Gewährung der Leistungen nach dem AsylbLG.

Und hier der Antrag 2:

Die Stadt Celle nimmt ab sofort Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG nicht mehr vor und beendet ihr verfassungswidriges Vorgehen. Wegen der Dringlichkeit wird um eine Befassung im Verwaltungsausschuss gebeten.

Begründung:

Das Sozialgericht Lüneburg hat in seinem Beschluss vom 13.12.2012 (S 26 AY 26/12 ER-) eindeutig festgestellt, dass die Leistungen in der vom BVerfG ausgesprochenen Höhe dem soziokulturellen Existenzminimum entsprechen. Eine Unterschreitung dieses Existenzminimums verletzt danach die Leistungsberechtigten in ihren Grundrechten und insbesondere die in Artikel 1 GG garantierte Menschenwürde. Die Menschenwürde des Antragstellers ist gemäß Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 GG unantastbar und darf durch staatliches Handeln nicht verletzt werden.

Im Beschluss heißt es:

„Für eine Absenkung der Leistungen des AsylbLG unter das vom BVerfG gebilligte Grundniveau existiert unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt eine Rechtfertigung, die mit der Verfassung im Einklang stehen würde. Eine fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung - wobei offen bleiben kann, ob sie vorliegend tatsächlich gegeben ist - kann in keinem Fall zum Anlass genommen werden, das Existenzminimum des Antragstellers zu beschneiden, um ein bestimmtes Verhalten zu erreichen bzw. zu erzwingen. Denn der Antragsgegner ist als staatliches Organ der Exekutive gemäß Artikel 20 Absatz 3 GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden und daran gehindert, eine gesetzliche Regelung, soweit sie verfassungswidrig ist, umzusetzen. Dass das Unterschreiten des Existenzminimums nicht damit gerechtfertigt werden kann, dass der Betroffene nicht seinen ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten nachkommt, hat das SG Altenburg mit Beschluss vom 11. Oktober 2012 (S 21 AY 3362/12 ER) zutreffend erkannt und eine verfassungskonforme Auslegung vorgenommen. Eine andere Sichtweise würde zu der unerträglichen Folge führen, dass die Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Druckmittel in die Dispositionsfreiheit des Leistungsträgers gestellt werden und der Betroffene somit zum Objekt staatlichen Handelns würde. Anders als im Falle von Sanktionen nach § 31 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB 11) - Grundsicherung für Arbeitssuchende - hat der Betroffene keinen Anspruch auf Erteilung von Wertgutscheinen, um zumindest den Grundbedarf an Nahrungsmitteln decken zu können.“